Donnerstag, 23. April 2009

Zwischen Brooklyn und Wien II

B"H

Diesen Comment bestehend aus einem Zeitungsartikel sandte mir eine Leserin zu einem anderen chassidischen Thema zu. Der Artikel ist gut zu lesen, dennoch verkneife ich mir am Schluss nicht noch ein paar Kommentare dazu.

Aus der österreichischen Tageszeitung "Die Presse"

Das Schtetl lebt! Und wie! Über die wundersame Renaissance der Chassidim in New York - und was Österreich damit zu tun hat.

Als ich vor gut zwei Jahren eingeladen war, bei einem "Fund Raising Dinner" einer jüdischen Flüchtlingsorganisation die Festrede zu halten, staunte ich nicht wenig, als ich im ärmlichen New Yorker Stadtteil Williamsburg in einen riesigen Veranstaltungssaal geleitet wurde: Begleitet von den neugierigen Blicken Hunderter orthodoxer Juden mit langen Prophetenbärten, Schläfenlocken, kaftanartigen Mänteln und hohen schwarze Hüten, ging ich zum Podium. Während viele auf dem Weg dorthin freundlich auf mich zukamen und mir als offensichtlich einzig fremdem Gast die Hand drückten, donnerte bereits vom Rednerpult eine dramatisch anmutende Ansprache. Auf Jiddisch!

Dies war meine erste Begegnung mit einer eigenartigen und faszinierenden Kultur, deren Anhänger zwar durch ihr exotisch anmutendes Äußeres unübersehbarer Bestandteil des Stadtbildes sind, jedoch den meisten New Yorkern so fremd bleiben wie Menschen aus einer anderen Zeit: Es ist die Welt der Chassidim, ultraorthodoxer Juden, die ihre Wurzeln im Osteuropa des 18. Jahrhunderts haben und in Enklaven inmitten der Acht-Millionen-Metropole an ihren Traditionen festhalten. Gegen den vermeintlich unentrinnbaren Strom der Zeit.

Begründer des Chassidismus war Israel ben Elieser (1698 bis 1760), den sie "Baal Schem Tow", den "Meister des guten Namens" nannten. In einer Zeit, als ein von Askese und Intellektualität geprägter Glaube die von Verfolgung und wirtschaftlicher Not bedrohten einfachen Juden in Osteuropa nicht zu trösten vermochte, löste dieser mit seiner mystisch-religiösen Volksbewegung ein spirituelles Feuer aus. Durch die von Martin Buber gesammelten Legenden über die Wundertaten des Baal Schem und der ihm nachfolgenden Weisen ist die Essenz der Lehre erhalten geblieben. Von den Chassidim selbst gibt es jedoch kaum noch Spuren in dieser Region. Hatte bereits die Russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus zu einer Auflösung der chassidischen Zentren in der heutigen Ukraine geführt, rottete der Holocaust diese Kultur in Ost- und Mitteleuropa fast gänzlich aus. Die wenigen Überlebenden flüchteten zumeist in die USA oder nach Israel, wo sie versuchten, sich nach dem Vorbild ihrer zerstörten Gemeinschaften wieder zu sammeln: "Lubavitch", "Satmar", "Ger", "Bobov", "Skver", "Vizhnitz", "Sanz", "Puppa", "Munkacz" und "Spinka" heißen einige der Sekten, deren Namen an die Städte ihrer Herkunft erinnern und deren Anhänger sich wie eh und je um ihre spirituellen Führer, die väterlich verehrten "Grand Rebbes", scharen.

Die Umstände der Wiedergründungen dieser Dynastien in New York waren zumeist dramatisch. Viele Sekten erzählen von der legendären Errettung ihres damaligen Rebbe vor dem Holocaust und vom Neuaufbau von Gemeinschaften mit wenig verbliebenen Getreuen in der Neuen Welt, die viele Orthodoxe lange Zeit als regellos, materialistisch, als "treyfe medina", unreines Land, verteufelt hatten. Sie berichten von der Schwierigkeit, als Gemeinschaft zu überleben, die ihre Auslegung des Gesetzes Gottes nicht den Wertvorstellungen der sie umgebenden Gesellschaft opfern wollte, und von den Komplikationen, die eine kompromisslose Einhaltung des "Schabbes" bei der Arbeitssuche - und damit für das materielle Überleben - bedeutete. Die örtliche (und geistige) Absonderung in eigenen Stadtvierteln, die sehr konservativen Wertvorstellungen, die reglementierte Rolle der Frau, die Art der Kleidung, die Ablehnung von Radio und Fernsehen sowie später des Internets als verderblicher Einfluss auf die Gläubigen: All das ließ jedenfalls auch noch viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg das Chassidentum in New York als nicht viel mehr erscheinen als ein hartnäckiges Relikt aus der Vergangenheit.

Doch das Blatt hat sich gewendet. Im ethnischen und kulturellen "salad bowl" von New York, einer Stadt, deren wunderbarste Eigenschaft das im Großen und Ganzen achtungsvolle Nebeneinander des Verschiedenartigen ist, haben die Chassidim aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz eine wundersame Renaissance erlebt. Geht man heute durch Williamsburg, Borough Park oder andere Viertel des New Yorker Stadtteiles Brooklyn, wird man Zeuge einer beeindruckend vitalen Subkultur, die einem als Mitteleuropäer fremd und vertraut zugleich erscheint. So ähnlich könnte es gewesen sein, vor dem Krieg, in Krakau oder Czernowitz: Man sieht belebte Straßen mit koscheren Läden, Bethäusern, Tora-Schulen, Buchhandlungen mit jiddischer Literatur, Auslagen von Schneiderläden mit traditionellen Gewändern, Greise mit langen weißen Bärten, versunken ins Gebet, rasch dahineilende junge Chassidim, deren Schläfenlocken bei jedem Schritt zittern - und vor allem sieht man eines: viele Kinder.

Wird in der westlichen Kultur Kinderreichtum oft als Belastung empfunden, bildet er für die Orthodoxen den wahren Sinn des Lebens. "Gott hat uns auf die Welt gebracht, damit wir uns vermehren", sagte mir einmal voller Stolz ein Rabbiner und Vater von zehn Kindern, der mit dieser Anzahl selbst den chassidischen Durchschnitt von sieben deutlich übertrifft. Da den Chassidim höhere weltliche Bildung und somit auch zumeist größerer Wohlstand verwehrt bleiben, bringt dieser Kinderreichtum oft ein Leben an der Armutsgrenze mit sich. Doch die Gemeinschaft lindert die Not, indem sie mit autonomen Sozialnetzen sowie eigenen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen für die Ihren sorgt.

So sind über Jahrzehnte, für die Außenwelt fast unbemerkt, große Gemeinschaften herangewachsen. Heute schätzt man die Zahl der Chassidim im Großraum New York auf mindestens 165.000. Dermaßen gestärkt wird auch in das Umland New Yorks expandiert: Etwa 60 Kilometer nördlich der Metropole haben beispielsweise die aus Satu Mare im heutigen Rumänien stammenden "Satmarer" in den 1970er-Jahren ein Schtetl aus dem Boden gestampft, das sie nach ihrem damaligen Rebbe, Joel Teitelbaum, "Kiryas Joel", Joels Stadt, nannten. Die augenscheinliche Vitalität dieser ultraorthodoxen Kultur hat insbesondere eine Volksgruppe in New York überrascht: die jüdische selbst. Im Großraum New York leben mit knapp 1,3 Millionen mehr Juden als irgendwo sonst außerhalb Israels. So groß diese Gemeinschaft ist, so facettenreich ist sie in religiöser, kultureller und ethnischer Hinsicht. Von glühenden Zionisten bis zu überzeugten Antizionisten, von den Aschkenasim Mitteleuropas über die mediterranen Sepharden bis hin zu Juden zentralasiatischer Abstammung reicht das Spektrum.

Bei aller Unterschiedlichkeit haben die meisten etwas gemein: Sie gliedern sich in die umgebende Gesellschaft ein und arbeiten sich oft die soziale Leiter hinauf. Und ebendieser Mehrheit können die Chassiden in Brooklyn bestenfalls als anachronistisch wirkende entfernte Verwandte erscheinen, die wiederum für ihre assimilierten Glaubensbrüder nur Häme und Schelte übrig haben. Trotz dieser distanzierten Beziehung blicken heutzutage jene einflussreichen Organisationen, die den jüdischen "Mainstream" politisch repräsentieren, mit einem gewissen Respekt über den East River, der Manhattan von Brooklyn trennt. Denn für das nicht orthodoxe Judentum in den USA, das sich durch Assimilation und Geburtenrückgang in seiner gesellschaftlichen Position gegenüber schnell wachsenden Volksgruppen wie den Hispanics zusehends geschwächt sieht, könnte die Vitalität der rigiden Welt der Chassiden fast wie die Erteilung einer göttlichen Lektion erscheinen.

Besonders hohe Wellen schlägt die chassidische Bewegung der "Chabad-Lubavicher", deren spirituelles Zentrum ebenfalls in New York beheimatet ist. Die Sekte hatte mit dem 1994 verstorbenen Rabbi Menachem Mendel Schneerson über Jahrzehnte einen charismatischen Grand Rebbe. Geleitet von seiner Vision, dass die Ankunft des Moshiach, des Messias, unmittelbar bevorstehe und durch Akte der Barmherzigkeit und Befolgung der göttlichen Gebote beschleunigt werden könne, schuf Schneerson eine weltweite Bewegung. Heute sendet diese Tausende Emissäre in alle Welt aus, um - mit enormen Erfolgen - Juden zum Glauben zurückzuführen. "Wo immer es Coca-Cola gibt, dort sind auch wir", erklärte mir dazu augenzwinkernd ein Repräsentant der Bewegung, die auch über eine kleine Gemeinde in Wien verfügt. Diese hat mit Unterstützung des ehemaligen US-Botschafters in Österreich, Ronald Lauder, im zweiten Wiener Gemeindebezirk ein jüdisches pädagogisches Zentrum eingerichtet - am neu benannten Rabbiner-Schneerson-Platz.

Stellt diese missionarische Offenheit von "Chabad" eine Ausnahme in der Reihe der chassidischen Sekten dar, darf man bei der sonst vorherrschenden Abgewandtheit von der restlichen Gesellschaft dennoch nicht den Pragmatismus und das politische Geschick unterschätzen, die oft im Kontakt mit der Außenwelt an den Tag gelegt werden. Als ich Rabbi David Niederman, dem Präsidenten der "United Jewish Organizations of Williamsburg", einem Dachverband religiöser, sozialer und schulischer Einrichtungen dieses Stadtteils, in seinem etwas desolaten Büro einen Besuch abstatte, erzählt er mir, unterbrochen von zahlreichen Telefonanrufen, von seiner Arbeit. Er schildert mir den Kampf mit der New Yorker Stadtverwaltung um sozialen Wohnbau für die wachsende Gemeinde, spricht über die Kunst der Verständigung mit anderen Volksgruppen, über sein nicht lange zurückliegendes Treffen mit Hillary Clinton und über den afroamerikanischen Baptisten-Prediger Edolphus "Ed" Towns, dem die Chassidim als US-Kongressabgeordneten ihres Distriktes seit vielen Legislaturperioden das Vertrauen schenken. Nein, ihr Vertreter in Washington müsse kein Jude sein, das Einvernehmen mit den Schwarzen sei sehr gut.

Für Österreichs Diplomatie in New York ist Rabbi Niederman auch eine langjährige Verbindungsperson zur ultraorthodoxen Gemeinschaft New Yorks - einer Gesellschaft, die den meisten ausländischen Repräsentanten verschlossen bleibt. Die von ihm geleitete Flüchtlingshilfsagentur "Rav Tov" ist eine jener Organisationen, die gemeinsam mit der Bundesregierung seit den 1970er-Jahren Juden bei der Emigration aus der damaligen UdSSR und anderen Teilen der Welt unterstützte. Insgesamt erlebten über 360.000 Juden auf diese Weise Wien als Tor zur freien Welt. Eine Tatsache, die Österreich im Kreise der Chassidim hoch angerechnet und immer wieder lautstark publik gemacht wird. "Ohne Österreichs Hilfe wäre unsere florierende Gemeinschaft nicht vorstellbar!", ließ Niederman vor einigen Monaten die staunende politische Prominenz bei der Eröffnung einer Veranstaltung wissen, bei der Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens New Yorks für Verdienste um die chassidische Community geehrt wurden.

Im Scherz wurde mir einmal gesagt, es gäbe im Judentum eine Reihe von Festen, die man mit den Worten zusammenfassen könne: "Sie wollten uns töten. Sie haben's nicht geschafft. Lasst uns essen, lasst uns feiern!" In diesem Sinne erscheint ganz New York wie ein jüdisches Fest des über die Vernichtung triumphierenden Lebens. Auch und ganz besonders für die Chassidim. Und Österreich, das sich immer mehr seines mitteleuropäischen Erbes besinnt - samt seiner jüdischen Kultur und samt seiner Schtetlach - kann sich mit ihnen freuen. [*]

http://diepresse.com/home/diverse/zeichen/57171/index.do?from=suche.intern.portal


Mein Kommentar:

Der Autor Jerome R. Mintz beschreibt in seinem Buch "Hasidic People" den Wiederaufbau bzw. die Neuorientierung chassidischer Gruppe in New York. Dabei geht er vor allem auf Bobov, Satmar, Karlin und die Lubawitscher (Chabad) ein.
Eine wunderbare Dokumentation, die ich derzeit auseinandernehme, um an dieser Stelle darüber zu berichten.

Bis in die sechziger Jahre hinein gehörte auch noch der New Yorker Stadtteil CROWN HEIGHTS zum neuerrichteten chassidischen Center. Dieses änderte sich jedoch allmählich, da es immer mehr Auschreitungen von Schwarzen gegenüber den ansässigen Chassidim gab. Zusätzlich war die hohe Kriminalitätsrate der schwarzen Bevölkerung ein Problem.
Das Resultat war, dass viele Gruppen ins benachbarte Borough Park (Boro Park) zogen. Bestes Beispiel hierfür sind die Bobover Chassidim, die ihren Stammsitz in Boro Park eröffneten.
Die einzige Gruppe, die tatsächlich in Crown Heights blieb, sind die Lubawitscher. Und das bis heute mit extremen Ausfällen der schwarzen Bevölkerungsschicht gegen die Chassidim. Von einem netten Miteinander kann zumindest dort keine Rede sein !

Zur Missionierung der Lubawitscher in New York:
Ihre Missionspolitik brachte Chabad nicht selten in Schwierigkeiten. Schauen wir nur auf den Fall des Mendel (Menachem) Wechter, ein Satmarer Chassid, der zu Chabad wechselte und einige seiner Studenten mit sich zog. Hierzu ist viel zu sagen und der Fall ist einen eigenen Artikel wert, doch soll nur einmal erwähnt sein, dass Chabad, zumindest in der Vergangenheit, ihre besten Lehrer aussandte, um zu missionieren. Nicht wie sonst üblich, irgendwelche Neurelig., die da meinen etwas zu wissen, sondern richtig gezielt geschulte Leute, die eigentlich Talmidim Chachamim (herausragende Lehrer) waren. Satmar ist mit irgendeinem neurelig. Schalich (Chabad - Abgesandten) nicht beizukommen und da muss schon ganz anderes Kaliber her.
In Satmar jedenfalls war man sauer und reagierte dementsprechend.

Weiterhin versuchte Chabad, ihre abgespaltene Gruppe, die Malachim, wieder für sich zu gewinnen und begann in dem 50iger Jahren mit einem Missionszug in die New Yorker Synagoge der Malachim. Man schmiss die Chabadnikkim hinaus, dennoch kehrten zwei oder drei Malachim zurück zu Chabad.

Was damals noch möglich war, dürfte heute schwieriger sein, denn heutzutage hegt Chabad den negativen Beigeschmack der Meschichistim. Es macht sich für einen "anständigen" Chassid nicht gut, in eine Gruppe zu wechseln, die dermassen gespalten ist und ein Teil den Lubawitscher Rebben als Meschiach verehrt.
Leider ist damit der gute Ruf, den Chabad einst innehielt, dahin.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Nur eine kleine Bemerkung: Ich bin eine Leserin :-).

Miriam Woelke hat gesagt…

B"H

Ach Du meine Gute !
Tja, leider konnte ich das durch die Kabel des Internets so schlecht erkennen. :-)